Interview zur geplanten Marktentnahme des Genius®-Therapie-Systems

: Das Genius®-Therapiesystem ist in Deutschland in der Nephrologie und in der Intensivmedizin weit verbreitet. Fresenius Medical Care (FME) hat 2021 bekannt gegeben, das Genius®-Therapie­system ab Juni 2025 nicht mehr zu vertreiben. Seitens der Nephrologinnen und Nephrologen gab es viel Kritik, auch Unverständnis für diese Entscheidung, denn das System erfreut sich einer großen Beliebtheit. Prof. Dr. ­Martin Kuhlmann, Präsident der DGfN, und Vorstandsmitglied PD Dr. Georg Schlieper suchten daher das Gespräch mit Dr. Martin Pachmann, Medizinischer Direktor Produkt- und Providergeschäft Deutschland bei FME, um Hintergründe zu erfahren und Alternativen auszuloten.

Hintergrund: Die 2021 in Kraft getretene neue EU-Medizinprodukteverordnung (MDR) regelt das Inverkehrbringen von Medizinprodukten. Es setzt langwierige und kostenintensive (Re-)Zertifizierungsprozesse der Hersteller voraus. Alle 5 Jahre muss eine Rezertifizierung durch den Hersteller erfolgen. Die MDR sieht keinen Bestandsschutz vor, was bedeutet, dass auch bereits genehmigte Medizinprodukte neu bewertet und zertifiziert werden müssen. Daher besteht die Befürchtung, dass aufgrund der strengeren Anforderungen einige Medizinprodukte vom Markt verschwinden, nicht weiterentwickelt beziehungsweise gar nicht erst in Europa auf den Markt gebracht werden könnten. Dies gilt auch für die Nephrologie – über Dialysegeräte hinaus. Die DGfN fordert deshalb vereinfachte Zulassungs- und Rezertifizierungsverfahren, damit eine zeitgemäße und patientengerechte medizinische Versorgung weiterhin möglich ist.

Prof. Kuhlmann: Warum hat sich FME entschieden, das Genius®-Therapiesystem vom Markt zu nehmen?

Dr. Pachmann: Uns ist bewusst, dass das System gut etabliert und bei Nephrologinnen und Nephrologen sehr beliebt ist, aber es hat in seiner aktuellen Form langfristig keine Zukunft. Dennoch hat unser Unternehmen diese Entscheidung noch mehrfach auf den Prüfstand gestellt. Die Vorgaben der aktuellen „Medical Device Regulation“ (MDR) der Europäischen Union hätten eine komplette Neuzulassung des Therapiesystems und aller seiner Komponenten erfordert, auch die Durchführung umfangreicher klinischer Studien. Hier stellt uns die MDR vor unverhältnismäßig hohe Hürden. Würde man die erforderlichen Kosten für die Erfüllung dieser Anforderungen auf die 1.500 Geräte im deutschen Markt umlegen, käme man für jedes einzelne auf einen sechsstelligen Eurobetrag an zusätzlichen Investitionen. Das ist nicht effizient.

Dr. Schlieper: Sie sind selbst Nephro­loge, da drängt sich die Frage auf, welche Erfahrungen Sie persönlich im Umgang mit dem Genius®-Therapie­system gesammelt haben …

Dr. Pachmann: Ich habe gern damit gearbeitet, gerade auch das System des vorherigen Füllens, des Desinfizierens, wenn die Behandlung fertig ist, hat mich begeistert. Prinzipiell hat meines Erachtens das langsame Abkühlen des Tanks immer zu einer sehr stabilen Behandlungssituation geführt, gerade bei den langen Therapien. Allerdings muss man diesen Vorteil vor dem Hintergrund der MyTEMP-Studie [1] aus Kanada relativieren, sie konnte keinen signifikanten Effekt des kühlen Dialysats nachweisen.

Dr. Schlieper: Was sind aus Ihrer Sicht Stärken und Schwächen des Genius®-Therapiesystems?

Dr. Pachmann: Als Stärke wird immer wieder das Mischen des Dialysats angeführt, also die Möglichkeit der individuellen Verordnung des Dialysats. Allerdings stellt sich die Frage, wie sehr das im Klinikalltag tatsächlich genutzt wird. Und es kann auch ein Nachteil sein, weil man nach dem Behandlungsbeginn bei einem Genius®-Therapiesystem darauf festgelegt ist und nicht problemlos auf eine andere Dialysat-Zusammensetzung umstellen kann.

Das System ist zwar einfach zu bedienen, aber was man am Krankenbett als behandelnde Ärztin und Arzt nicht sieht, ist die Zeit zur Vor- und Nachbereitung, die ziemlich personalintensiv ist. Mischen, Abfüllen, Reinigen – das erfordert Expertise und kostet Zeit.

Ein Vorteil ist aber in jedem Fall die Unabhängigkeit vom Ringleitungssystem, was den mobilen Einsatz des Gerätes erleichtert. Darüber hinaus hat das System auch Vorteile für die Forschung: Wer Studien mit Dialysat durchgeführt hat, konnte beim Genius®-Therapiesystem auf die große Auffangwanne verzichten, weil das verbrauchte Dialysat automatisch gesammelt wird.

Prof. Kuhlmann: Wie viele klinische Studien hat Fresenius Medical Care zum Genius®-Therapiesystem durchgeführt? Was sind die wichtigsten Erkenntnisse aus diesen Studien?

Dr. Pachmann: Nach meiner Kenntnis gibt es weit über 150 wissenschaftliche Veröffentlichungen, die sich explizit auf das Genius®-Therapiesystem beziehen und ganz unterschiedliche Aspekte untersuchen. Das betrifft sowohl die intermittierende Dialyse der ambulanten Patientinnen und Patienten, die Akutdialyse auf Intensivstationen bei Vergiftungen, die Therapieeffizienz und viele andere Fragestellungen und Szenarien. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich das System bewährt hat.

Dr. Schlieper: Umso bedauerlicher, dass es vom Markt genommen wird. Hat FME ein Dialysegerät im Portfolio, das all die oben genannten Vorteile wie Unabhängigkeit von der Ringleitung, individuelle Dialysatzusammensetzung etc. genauso leistet?

Dr. Pachmann: Das Genius®-Therapiesystem ist sicherlich besonders in seiner Zusammenstellung – die dezentrale Konzentratproduktion, die stark simplifizierte Form der Pumpen- und Überwachungstechnik. Andere Systeme erfüllen diese einzelnen Aspekte aber auch. Beispielsweise kann man sich mit Geräten wie der multi­FiltratePRO von der Ringleitung unabhängig machen und hat dann auch deutlich mehr Flexibilität in der Therapie und auch bessere Überwachungsmöglichkeiten.

In die Entscheidung, das Genius®-Therapiesystem aufzugeben, ist sehr wohl eingeflossen, dass eine ebenso hochwertige Patientenbehandlung durch unsere Produkte weiter gewährleistet ist. Die multiFiltratePRO deckt ein breites Spektrum therapeutischer Anwendungen ab, ist dabei technisch auf einem viel höheren Niveau. Und, das darf man auch nicht vergessen, außerhalb der Akutverfahren auf der Intensivstation, gibt es für die intermittierende Behandlung auch die Möglichkeit der Kombination eines konventionellen Hämodialysegeräts wie der 5008S mit Einzelplatzosmose. Auch damit ist man von der Ringleitung unabhängig.

Prof. Kuhlmann: Wie schätzen Sie den ökologischen Fußabdruck eines Genius®-Therapiesystems im Vergleich zu Geräten für die inter­mittierende oder kontinuierliche Nierenersatztherapie ein? Gibt es Daten dazu?

Dr. Pachmann: Für die intermittierenden Verfahren haben wir mittlerweile eine solide Datenbasis, auch dank der DGfN-Kommission „Klima, Umwelt und Niere“. Da liegen wir in Deutschland im internationalen Vergleich sehr gut. Das gilt sowohl für die mit Fresenius Medical Care-Technik ausgestatteten NephroCare-Zentren als auch für die anderer Provider, die Daten liefern. Für die kontinuierlichen und die Akutverfahren, also auch für das Genius®-Therapiesystem, liegen solche Daten weder in diesem Umfang noch in der Detailtiefe vor – insofern lässt sich der ökologische Fußabdruck des Genius®-Therapiesystem nicht solide beziffern. Ich denke, es wäre eine Aufgabe für die DGfN-Kommission, sich auch mit dem CO2-Fußabdruck der Akutverfahren zu beschäftigen.

Dr. Schlieper: Wie lange werden Zentren mit Genius®-Therapiesystem noch mit Ersatzteilen versorgt werden?

Dr. Pachmann: Bis voraussichtlich Ende 2034 halten wir für die bestehenden Systeme sowohl den Service als auch die Versorgung mit Ersatzteilen aufrecht. Für Verbrauchsmaterialien geht die Frist auch darüber hinaus.

Prof. Kuhlmann: Fresenius Medical Care hat das Genius®-Therapiesystem in Deutschland aufgekauft, der Ent­wickler war Bernd Tersteegen, es aber nicht weltweit vermarktet. Was sagen Sie kritischen Stimmen, die unterstellen, dass FME das Genius®-Therapiesystem nur gekauft hat, um es vom Markt zu nehmen?

Dr. Pachmann: Das ist falsch. Das System gibt es inzwischen seit 30 Jahren, und die Dialysezentren werden es weitere zehn Jahre nutzen können. Allein das zeigt schon, wie sehr Fresenius Medical Care dem System verbunden ist. Es wurde, seitdem es im FME-Portfolio ist, kontinuierlich weiterentwickelt. Und es gab auch Markteinführungen in anderen Ländern, die aber nur möglich sind, wenn neben infrastrukturellen und regulatorischen Voraussetzungen auch, und das darf man nicht vergessen, „wassertechnische“ und mikrobiologische Voraussetzungen erfüllt werden können. Das ist längst nicht überall der Fall. Vermarktet wurde das System daher vor allem in der DACH-Region, also in Deutschland, Österreich und in der Schweiz, in Italien und in einigen lateinamerikanischen Ländern, wie z. B. Kolumbien.

Dr. Schlieper: Wie hoch schätzen Sie die Zufriedenheit Ihrer Kundinnen und Kunden mit dem Genius®-Therapiesystem ein?

Dr. Pachmann: Grundsätzlich kann ich sagen, dass wir für alle unsere Dialysegeräte sehr positive Rückmeldungen aus dem Markt erhalten. Das ist nicht auf einen Gerätetypen beschränkt.

Und zum Marktrückzug des Genius®-Therapiesystems haben wir bisher nur Reaktionen aus der Nephrologie, nicht aber aus der Intensivmedizin erhalten. Das liegt wahrscheinlich daran, dass die Nierenersatzverfahren primär in den Fachbereich der Nephrologie fallen und es hier das tiefste Wissen und den besten Überblick gibt.

Prof. Kuhlmann: Sehen Sie noch eine Chance, dass das Genius®-Therapiesystem von FME doch noch weitergeführt werden kann?

Dr. Pachmann: FME hat alle Optionen geprüft und die Entscheidung ist nach langen Abwägungen getroffen worden. Die neue MDR stellt leider für viele Produkte auf dem Markt, und das betrifft alle Unternehmen gleichermaßen, unverhältnismäßig hohe Hürden auf.

Prof. Kuhlmann: An welchen Weiterentwicklungen im Bereich der Hämodialyse arbeitet FME zurzeit?

Dr. Pachmann: Innovation ist ein zentrales Thema bei FME. Denn wir wollen die Therapien für Patienten immer weiter verbessern. Das gilt sowohl für die Akutverfahren als auch die chronischen Behandlungen. In unserem Werk in Sankt Wendel haben wir seit Bestehen in nunmehr 50 Jahren über 1.000 Patente angemeldet. Das zeigt, dass FME auch in Zukunft einer der Innovationstreiber an der Seite der Nephrologinnen und Nephrologen bleiben wird.

Denn das möchte ich abschließend betonen: Nephrologinnen und Nephrologen leisten in meinen Augen eine unfassbar gute Arbeit. Wir können mittlerweile nicht nur Nierenkrankheiten behandeln, sondern sie effektiv verhindern. Das sollte uns motivieren, die Nephrologie national und international noch präsenter zu machen und gemeinsam weiter nach vorn zu bringen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Referenzen

[1] MyTEMP writing committee. Personalised cooler dialysate for patients receiving maintenance haemodialysis (MyTEMP): a pragmatic, cluster-randomised trial. Lancet. 2022 Nov 12;400(10364):1693-1703. doi: 10.1016/S0140-6736(22)01805-0. Epub 2022 Nov 4. PMID: 36343653.

Zurück